Jean-Henri Fabre: Der Homer der Insekten

Thomas Streifeneder

Die „Erinnerungen eines Insektenforschers“ des französischen Entomologen sind nun zum ersten Mal vollständig übersetzt. Ein Plädoyer, gerade jetzt den großen Naturbeobachter zu lesen.

Der französische Entomologe Jean-Henri Fabre (1823-1915) war ein unermüdlicher Insektenbeobachter. Seine kreativen Experimente in der Provence, um die Instinkte von Gottesanbeterin, Feldskorpion und Wespen zu verstehen, beschrieb er in hinreißenden wissenschaftlichen Essays. Inspirationsquelle für zahlreiche Dichter und Denker, wurde Fabre 1904 für seine “Erinnerungen eines Insektenforschers” (Souvenirs Entomologiques) für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. In viele Sprachen übersetzt, wurde kürzlich der letzte, zehnte Band seiner Erinnerungen veröffentlicht. Damit liegt zum ersten Mal sein 4.000-seitiges Hauptwerk vollständig auf Deutsch vor. Die aktuellen und wiederholt erdrückenden Nachrichten über den Insektenschwund machen sein Werk aktueller denn je. Es ist eine zutiefst menschliche Lektüre, die unsere Wahrnehmung von und Einstellung zu Kerbtieren und Spinnen prägen kann. Denn viele Wissenschaftler sind sich einig: Die wahre Gefährdung für die Menschheit ist das Insektensterben auf den Fluren.

Der zehnte und letzte Band der “Erinnerungen eines Insektenforschers” ist jetzt erschienen

Ein das Lebendige lobpreisender Meister des Experiments. Das war Jean-Henri Fabre. Zäh und hingebungsvoll akribisch stellte er sich fasziniert und neugierig immer wieder neuen Rätseln und Fragen über das Verhalten von Insekten. Fabre hatte eine schier unfassbare Ausdauer des genauen Hinsehens. Bei sengender provenzalischer Sommerhitze konnte er stundenlang am Boden liegend und kniend ausharren, bis das Experiment gelang und er eine befriedigende Antwort fand.
Für die Dorfbewohner war er verrückt. Er aber ließ sich verblüffen und verblüffte später viele Leser. Zum Beispiel, beim Versuch zu verstehen, warum die Kreiselwespen ihren mit lockerem Sand verschlossenen Eingang zur Höhle mit der Larve nicht mehr finden, sobald der Sand entfernt wurde. Die Wespe hielt an ihrer “tiefgründigen Einfalt”, ihrem einstudierten Verhalten fest. Sie ließ ihre der Sonne ausgesetzte Larve sterben, weil sie den Eingang ohne Dach nicht als ihren erkannte, ihn nicht genau so wiederfand wie sie ihn verließ:

Das zerstörte Haus, die gefährdete Familie sind im Moment unwichtig; sie kann nur an den bekannten Eingang denken, zu dem sie durch den losen Sand muss. Wird er nicht gefunden, mag alles draufgehen, Wohnung und Bewohner! Ihr Handlungen sind wie eine Reihe von Echos, die einander in fester Folge hervorrufen, das nächste ertönt erst, wenn das vorherige ertönt ist

Kluge Sammler von Prachtkäfern wussten, nachdem sie Fabre gelesen hatten, auf was sie achten müssen. Auf die Knotenwespen. Denn sie betäuben diese viel größeren und wunderschönen Käfer, ohne sie zu töten – die Larven brauchen frisches Fleisch – und lagern sie, versehen mit ihrem Ei, in einem unterirdischen Lager ein. Für einen Käfersammler öffneten sich mit einem kleinen Spatenstich funkelnde Wunderkammern voller entomologischer Schätze.
Eines meiner Lieblingskapitel handelt von den großen Nachtpfauenaugen. Fabres Sohn stürmt ins Wohnzimmer. Er ist außer sich über die unzähligen großen Vögel oder Fledermäuse, die plötzlich nachts von überall her ins Haus eindringen und umherschwirren. Die Pheromone eines Nachtpfauenaugenweibchens, von Fabre zum Studium in einem seiner Drahtglocken gehalten, zieht sämtliche Männchen der Umgebung an (was heute in Anbetracht des Artenschwunds nostalgisch und traurig stimmt). Nun gilt es die Drahtglocke wandern zu lassen, denn aus welcher Richtung und Entfernung kommen sie nur angeflogen?

Seine Bücher sind weltweite Bestseller

Es sind diese und hunderte andere Nature Writing Stories dieses großen Verhaltensforschers aus Südfrankreich, die dem Leser eine unbekannte Welt eröffnen und in den autobiographischen Kapiteln von seinen Lebensumständen erzählen. Fabre, der ehemalige Bauerssohn, der im Briefwechsel mit Charles Darwin stand, war ein erfindungsreicher Lehrer. Trotz seiner sehr erfolgreichen Sachbücher über Naturphänomene wie “Luft”, “Sternenhimmel” und “Pflanzenwelt” – sie waren in der zweiten Hälfte des 19 Jahrhunderts Bestseller –, litt er unter prekären Verhältnissen. Mit Hilfe seines philosophischen Freundes John Stuart Mill (1806-1873) konnte er sich seinen Traum erfüllen: Er kaufte ein Haus auf dem Land in Sérignan-du-Comtat (Vaucluse) – heute ein Nationalmuseum. Herzstück, sein Eden und Paradies für Hautflügler, war aber der “Harmas”, sein Versuchsgarten: Ein verwildertes Stück steiniges Brachland mit nach Thymian und Lavendel duftender provenzalischer Fauna. Hier und im Umland führte er ab 1879 bis zu seinem Tod 1915 seine den Insekten gewidmeten Experimente und Beobachtungen durch.

Wird die eindringliche Warnung der Wissenschaftler vor den Folgen des Insektensterbens wahrgenommen?

Das Insektensterben und der dramatische Verlust an Biodiversität sind heute beängstigende Themen. Fast täglich liest man in den Medien über den nutzungsbedingten Artenschwund von Vögeln und Insekten vor allem im Agrarland. Dessen Ursachen sind insbesondere eine industrielle Landwirtschaft und die verheerenden Wirkungen von Pestizideinsatz mit Neonicotinoiden als dem weltweit am meisten eingesetzten Insektizid. Gravierend sind außerdem zerstörte Habitate und fehlende naturnahe Flächen. Vor kurzem zeichneten Berichte über den neuen Insektenatlas Österreich und die internationale Metastudie zahlreicher Wissenschaftler “Scientists´ warning to humanity on insect extinctions” ein sehr düsteres Bild. Für sie und andere ist klar: “Action to save insect species is urgent, for both ecosystems and human survival.” Als Meilenstein der Aufklärung gilt die sogenannte Krefelder Studie 2017, die in Naturschutzgebieten (sic!) einen 75-prozentigen Rückgang der Insektenbiomasse in den letzten 30 Jahren feststellte. Wichtig war 2019 das bayerische Volksbegehren Artenvielfalt “Rettet die Bienen!”, das zu einem besseren Naturschutzgesetz führte.

Langsam dringt bei immer mehr Menschen die Erkenntnis durch, dass Insekten, ja auch sie!, systemrelevant sind. Aber nur wenige verstehen ihre Biologie und ihr Verhalten. Eine bessere Kenntnis würde uns stärker mit diesen faszinierenden Lebewesen verbinden. “Das, was man kennenlernt, wächst mit der Erkenntnis”, sagt Nan Shepard in ihrem Buch “Der lebende Berg“. Je mehr wir über Insekten wissen, desto mehr fühlen wir uns mit ihnen verbunden, desto eher verändert sich unsere Wahrnehmung und unser Verhalten.

Fabre lesen kann hier Enormes leisten. Seine Texte sind wie geschaffen für eine Insekten-Sympathieoffensive. Denn sie zeigen, dass wir mehr darüber wissen sollten, was in der Natur passiert. Gliederfüßer sind kein lästiges Kleinviehzeug. Nicht nur die populäre Biene und der Schmetterling sollten sofort dringend umfassend geschützt werden. Und für wen nur die Effizienz zählt: Neue Studien bestätigen, dass Wildbienen viel effizientere Bestäuber sind als Honigbienen.

Warum Fabres brillante Essays heute so wichtig für unsere Wahrnehmung der Insektenwelt sind

Selten ist es so angebracht, von der wirklichkeits- und bewusstseinsverändernden Macht der Literatur zu sprechen wie bei Fabre. Seine menschliche, poetische Prosa der “Erinnerungen” sind ein lehrreicher Lesegenuss über die faszinierende Lebensweise, Habitate, Instinkte, Psychologie und Verhalten von Insekten. „Im Niedrigen, Stinkenden und Winzigen nahm Fabre das Erhabene, Liebliche und Märchenhafte wahr“, resümiert Anita Albus[2]. Fabres mitreißende Nature Writing Essays sind Weltliteratur, “genaue Erzählungen”, die mit großem literarischem Geschick von “beobachteten Tatsachen” berichten. Sie haben nicht nur die Perzeption von Käfern, Wespen und Spinnen, sondern auch den Lebenslauf von Vielen entscheidend geprägt. Intellektuelle, Wissenschaftler und Schriftsteller wie Darwin, Hugo, Rostand, Bergson, Proust, Apollinaire, Valéry, France, Pasteur und Gide schätzten ihn als Inspirationsquelle, als großen Schriftsteller und Verhaltensforscher. Darwin ist beeindruckt von Fabres unübertroffener Beobachtungsgabe. Er meinte, ihn zu lesen sei so erfüllend wie die Insekten selbst zu beobachten. Für Victor Hugo war Fabre der Homer der Insekten. Treffend stellt Kurt Guggenheim in seiner Biographie fest: 

Mag an diesem Meister der Sprache die stilistische Zucht, die behutsame und feste Hand gerühmt werden, so ist damit das unwägbare Element kaum angedeutet, dem seine Werke den stillen Glanz verdanken: eine seltene und seltsam ergreifende Bescheidenheit.

Die “Erinnerungen eines Insektenforschers” sind eine originelle Symbiose eines Lehrbuchs mit einer „prächtigen naturwissenschaftlichen Beobachtungs- und Schilderungskunst“[3] und essayistischer Unterhaltung. Für Fabre gilt, was Jürgen Goldstein[4] meint, wenn er von der Bedeutung des Narrativen im Nature Writing schreibt, die „kein ausschmückendes Zierrat einer Sachlichkeit, Objektivität wissenschaftlicher Beschreibung ist, sondern Zusammenhänge von Disparatem erzählerisch verständlich macht.“

Der zehnte und letzte Band der “Erinnerungen eines Insektenforschers” ist jetzt erschienen

Nun ist er erschienen, der zehnte und letzte Band von Fabres epochalen, 4.000 Seiten umfassenden ´Erinnerungen eines Insektenforschers`, Wegbereiter der Verhaltensforschung und Ökophysiologie. Fein editiert vom Berliner Matthes & Seitz Verlag – er publiziert auch die lesenswerten Naturkunden – mit Zeichnungen von Christian Thanhäuser. Fabres Lebenswerk liegt damit zum ersten Mal vollständig auf Deutsch vor. Im internationalen Kontext vergleichsweise spät, lange nachdem es in anderen Ländern längst zum Kanon des naturwissenschaftlichen Unterrichts gehört. Ob Kanon oder nicht, die Lektüre von Fabre ist eines ganz sicher – ein lustbringendes Versprechen auf eigene Anschauungen! 

Weiterlesen

Eine schöne Zusammenfassung seines Lebens und Bedeutung, sowie die wissenschaftliche Einordnung seines Werkes findet sich bei:

Ulrike Draesner: „Helden des Kampfes und der Brut – Schreibversuch über Jean-Henri Fabres Schreibversuch über einen lebenslangen Feldversuch. In: “Heimliche Helden”, Essays, München: Luchterhand, 2013.

Jürgen Goldstein: „Ein Lobpreis des Lebendigen – Jean-Henri Fabre. In: „Naturerscheinungen – Sprachlandschaften des Nature Writing“, Berlin: Matthes & Seitz, 2019.

Anita Albus (2014): „Das anmutige Rätsel des Erdbeerbaums.“ In: „Käuze und Kathedralen“, Frankfurt: S. Fischer

Spektrum: „Jean-Henri Fabre“: https://www.spektrum.de/magazin/jean-henri-fabre/821925.

Wer nicht gleich die umfangreichen “Erinnerungen eines Insektenforschers” lesen will, der findet in den beiden folgenden Diogenes Büchern eine schöne Auswahl:
Jean-Henri Fabre: “Wunder des Lebendigen”, Diogenes Verlag.

Jean-Henri Fabre: “Das offenbare Geheimnis”, Diogenes Verlag.

Pressestimmen zu “Erinnerungen eines Insektenforschers”: https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/erinnerungen-eines-insektenforschers-i.html?lid=5

[1] Jean-Henri Fabre (2010): Erinnerungen eines Insektenforschers I, Berlin: Matthes & Seitz.

[2] Anita Albus (2014): Das anmutige Rätsel des Erdbeerbaums. In: Käuze und Kathedralen, Frankfurt: S. Fischer, S. 55.

[3] Jean-Henri Fabre (1911): Der Sternhimmel. Graff R. (Hrsg.), Stuttgart: Franck´sche Verlagshandlung, S. 5.

[4] Jürgen Goldstein (2019): Naturerscheinungen – Die Sprachlandschaften des Nature Writing. Berlin: Matthes & Seitz Verlag, S. 229.